Warum in der Migrationspolitik Realismus notwendig und auch moralisch geboten ist

Kaum ein Thema bewegt die europäische Öffentlichkeit so nachhaltig wie die Migrationsfrage. Im medialen und politischen Diskurs dominiert dabei eine Sichtweise, die Migration vor allem als tugendethisches, moralisches Gebot begreift: Schutzsuchende, Verfolgte und wirtschaftlich Benachteiligte hätten – so das implizite oder explizite Argument – ein Recht auf Aufnahme, Teilhabe und Integration. Zweifel an dieser Haltung werden nicht selten als Ausdruck mangelnder Empathie oder gar als Nähe zu rechtspopulistischen Denkweisen gebrandmarkt.

Dabei fehlt in der Debatte zunehmend ein ordnungsethischer Zugang, wie ihn etwa Karl Homann (2014) vertreten hat. Ordnungsethik setzt nicht bei individuellen moralischen Impulsen an, sondern bei der institutionellen Ermöglichung von Moral unter Bedingungen knapper Ressourcen und konfligierender Interessen. Mit anderen Worten: Nicht jedes moralisch wünschenswerte Verhalten kann zum Prinzip politischer Gestaltung werden – erst recht nicht, wenn es die Voraussetzungen seiner eigenen Realisierbarkeit untergräbt. Dabei steht die Ordnungsethik in vielerlei Hinsicht im Widerspruch zur Theologie und der dort vertretenen Tugendethik und der deontologischen Ethik nach Immanuel Kant (1785) (vgl. zur Diskussion Enste/ Wildner, 2015).

Migrationsethik braucht Ordnungsethik

Der ökonomische und soziale Wohlstand einer Gesellschaft – ebenso wie ihre liberale Grundordnung – ist nicht naturgegeben, sondern Ergebnis funktionierender Institutionen: einer stabilen Rechtsordnung, eines produktiven Arbeitsmarktes, eines belastbaren Bildungssystems und eines sozialen Ausgleichsmechanismus (Enste, 2015). Werden diese Strukturen überfordert, gefährdet dies nicht nur das Wohl der Aufnahmegesellschaft, sondern auch das der Migrantinnen und Migranten selbst – insbesondere der bereits integrierten.

Aus ordnungsethischer Sicht ist Migration daher nicht primär eine tugendethische, sondern eine gestaltungslogische Frage: Wer Migration ermöglichen will, muss sie regulieren. Wer Integration fördern will, muss Selektivität und Zumutbarkeitsgrenzen anerkennen. Und wer langfristig moralische Ansprüche erhalten will, muss kurzfristig auch unpopuläre Entscheidungen treffen.

Warum diese Perspektive seit Jahrzehnten marginalisiert wird

Dass diese Perspektive im öffentlichen Diskurs unterrepräsentiert ist, liegt unter anderem an einer Tendenz zur Moralisierung und tugendethischen Betrachtung gesellschaftlicher Fragen, die sich besonders in symbolisch aufgeladenen Feldern wie Flucht und Migration zeigt. Ordnungsethische Argumente erscheinen hier oft zu abstrakt, zu „kühl“ oder zu technokratisch – obwohl sie in Wahrheit genau jene Verantwortungsethik verkörpern, die realistische Lösungen im Sinne aller Beteiligten anstrebt.

Zudem existiert eine gefährliche rhetorische Gleichsetzung: Wer Steuerung fordert, wird schnell als „abschottend“ etikettiert – obwohl das Ziel nicht Schließung, sondern steuerbare Offenheit ist. Dass diese Positionen vielfach in sachlich begründete Migrationskonzepte münden (z. B. Punktesysteme, Kontingentlösungen, Migrationspartnerschaften), wird im diskursiven Klima oft ignoriert.

Fazit: Ordnungsethik ist kein Zynismus, sondern eine Voraussetzung moralischer Politik

Die Debatte über Migration braucht dringend mehr ethischen Realismus. Eine Migrationspolitik, die sich allein an moralischen Maximen orientiert, läuft Gefahr, sowohl ihre eigenen Ideale als auch die gesellschaftliche Akzeptanz zu zerstören. Nur eine ordnungsethisch fundierte Steuerung von Migration kann die Voraussetzungen erhalten, unter denen humanitäre, soziale und wirtschaftliche Ziele überhaupt erreichbar sind.

Daher ist es zentral, ordnungsethische Stimmen nicht als kaltherzig, sondern als verantwortungsvoll und vorausschauend zu verstehen (vgl. Koopmans, 2023). Wer Migration dauerhaft ermöglichen will, muss sie gestalten – nicht nur moralisch, sondern auch institutionell. 

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Quellen: 

Enste, Dominik, 2015, Markt und Moral: Eine ordnungsethische Reflexion, Köln

Enste, Dominik/ Wildner, Julia, 2015, Mensch und Moral: Eine individualethische Reflexion, Köln

Homann, Karl, 2014, Sollen und Können: Grenzen und Bedingungen der Individualmoral, Wien

Homann, Karl/ Enste, Dominik/ Koppel, Oliver, 2009, Ökonomik und Theologie – Der Einfluss christlicher Gebote auf Wirtschaft und Gesellschaft

Kant, Immanuel, 1785, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Leipzig

Koopmans, Ruud, 2023, Die Asyl-Lotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukraine-Krieg. München

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Veröffentlicht von:

Dominik H. Enste

Prof. Dr. Dominik H. Enste ist Geschäftsführer der IW Akademie, Leiter des Kooperationsclusters "Verhaltensökonomik und Wirtschaftsethik" im Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Professor für Wirtschaftsethik und Institutionenökonomik an der Technischen Hochschule Köln und Dozent an der Universität zu Köln.